Über das Fremdsein

Rezension zu „Saint Zoo“ von Chihiro Hamano aus dem Japanischen von Daniel Yamada Mattes und Seitz Berlin, 2022     


Chihiro Hamano klassifiziert ihr 2020 in Japan erschienenes und dort sehr erfolgreiches Buch „Saint Zoo“ als Non-Fiction-Literatur, gleichwohl wird es bisher als reines Sachbuch aufgenommen. Diesem Text die literarische Dimension abzusprechen heißt jedoch, seinen tief berührenden Subtext zu überhören. Aus ihm spricht eine körperlose, seltene Stimme zu uns, die sich schämt und versteckt. Es ist dies die Stimme der Schriftstellerin Hamano, die schwer traumatisiert jahrelange Beziehungsgewalt überlebt hat und fortan nicht mehr schreibt. Die sich selbst fremd gegenübersteht, die jeder Nähe entfremdet ist, die sagt: „Ich verstehe die Liebe nicht.“


„Saint Zoo“ ist hochsensibler Entwicklungsroman im Gewand der kulturwissenschaftlichen Feldstudie über Zoophilie, allegorische Erzählung über das Fremdsein und Parabel eines Traumaintegrationsprozesses. Die Leitmotive lauten Distanz und Nähe.

Hamano wird zur Sexualforscherin, um ihr Leiden zu lindern, ihre Verachtung für Sexualität und Liebe, ihren Selbsthass zu überwinden. In ihre Arbeit über eine kleine Gruppe Deutscher Aktivisten für achtsame Liebesbeziehungen zwischen Menschen und Tieren schreibt sich die verstummte Autorin ein und so tut sich dieser Subtext auf, der die um Neutralität bemühte Sprache unter Spannung setzt, der besonders ist und tief berührt. 

Was ist befremdlicher? Der Gedanke, dass zwischen Mensch und Tier eine gewaltfreie libidinöse Verbindung bestehen könnte? Oder der Gedanke, dass in einer Ehe über Jahre hinweg ein Mensch seinem Partner Gewalt antut und niemand es merkt oder hilft? Hamano, die Liebe als Vernichtungsversuch erlebt hat, ist bereit, allen vermeintlich gesicherten Zuschreibungen zu misstrauen.

Ihr Ehemann behandelte sie „wie ein Tier“, diese „Liebe“ war ein Ort der Gewalt. Als sie ihm doch entkommt, sind die Reaktionen ihrer „Liebsten“ wenig verständnisvoll. Sie solle über ihre Erlebnisse besser schweigen. Sie werde vermutlich in der nächsten Beziehung wieder Gewalt erfahren. Nicht viel hilfreicher als die Interpretation der Polizei, die feststellte: Ein Beziehungsstreit. Die Botschaften hinter diesen Sätzen: Du bist beschmutzt. Du wirst dir nicht entkommen. Du trägst selbst die Verantwortung. Du bist schuld.

Hamanos innerer Distanz entspricht die äußere Distanz, die sie aufsucht, sowohl im fremden und alle befremdenden Gegenstand der Zoophilie, als auch im kulturell fremden und so weit von Japan entfernten Deutschland. Sie findet in der Fremde Menschen, die sich ihr zart offenbaren und auch sie offenbart sich ihnen. Die Zoos der Organisation ZETA erzählen ihr von der Liebe zu ihren Tieren, leben ihr diese Liebe vor und behaupten, sie sei wahrhaftig und rein. Ist es ein Märchen das Hamano erlebt? Konstruiert sie es, weil sie es erleben will? Glaubt sie an die Aufrichtigkeit der ZETA-Zoos? Ist „Saint Zoo“ eine Insel von Heiligen? Hamano ist nicht naiv. Die titelgebende Bezeichnung geht auf das sarkastische Urteil eines ehemaligen Gruppenmitglieds zurück, das die Idealisierung der ZETA-Zoos als realitätsfremd abtut. Hamano bedauert, diesen Mann erst am Ende ihres Aufenthaltes getroffen zu haben. Trotz allem wird „Saint Zoo“ für die Autorin zur heilsamen Insel.

Am Ende steht ein läuternder Zusammenbruch, als sie begreift, dass sie nicht die vermeintlich objektive Wissenschaftlerin ist, für die sie sich während der Recherche gehalten hat. Dass sie sich ihren Forschungsobjekten gegenüber offenbart hat, Beziehungen, sogar Freundschaften mit ihnen eingegangen ist, subjektiv motiviert war. Doch ihr Scheitern am eigenen Anspruch ist gleichzeitig Sieg über die innere Distanz. Sie hat Liebe erfahren. Ihre Studie erweitert sie um die persönliche Geschichte und gibt uns damit den Schlüssel zur Deutung der Parabel an die Hand.

Hamanos Transformation von einer sich abgespalten fühlenden hin zu einer selbstwirksam handelnden Person beizuwohnen, ist lehrreich, ihr Coming-Out wertvolles Geschenk: eine Ahnung zu bekommen davon, welche Arbeit geleistet werden muss, um ein Gewalttrauma zu überwinden (besser: zu integrieren), ein Verständnis zu entwickeln für die Wahrnehmung, die Sensibilität einer traumatisierten Person: ist Präventionsarbeit.

Traumasymptome sind politisch relevant. Wir müssen Verantwortung übernehmen für die Wunden aus Beziehungsgewalt und sexualisierter Gewalt. Weil wir als Gesellschaft Täterschutz betreiben, wenn auch oft bloß subtil und unbewusst. Weil wir die Opfer schuldig sprechen, strukturell und narrativ, weil kaum Schutzräume zur Verfügung stehen, weil nur selten sichere juristischen Verfahren möglich sind. Lesend Hamanos Heilungsprozess beizuwohnen, ihn so zu bezeugen, ihre Entfremdung, Spaltung, Dissoziation nachzuvollziehen, ihre Stimme zu hören heißt, Gewaltopfer verstehen lernen, sie von Scham und Schuld zu entlasten.

Februar 2023